Volltext: Deutschland und Europa

Deutschland wurde ihr mit besonders naiver Begeisterung gehuldigt. Hier 
trat sie besonders augenfällig hervor, weil das deutsche Volk bisher in 
armer und träumerischer Zurückgezogenheit gelebt hatte und jetzt erst 
unter dem neuen Wind zum erstenmal seit Jahrhunderten wieder den Ruf 
zur Macht vernahm. Was bei den anderen längst zur sicheren, selbstver¬ 
ständlichen Gewohnheit geworden war, der Drang nach Ausdehnung, 
Gewinn und Weltgeltung, wirkte im lang verkümmerten und zerrissenen 
Reich der Mitte Europas wie ein eben erst entdecktes Bekenntnis zum Da¬ 
sein, dem man sich mit jugendlicher Frische und zugleich mit jugend¬ 
licher Unvorsichtigkeit hingab. Der große Realismus eines Bismarck wurde 
bald nach der Seite des Materialismus, bald nach der Seite eines dünn be¬ 
rechnenden Spekulierens mißverstanden. Das ganze Volk war dem Geiste 
des Reichsgründers untreu geworden, alle hatten teil an dem Wandel auch 
des politischen Geschicks. 
Und das ist der eigentliche Grund, warum man die Irrtiimer nicht ver¬ 
stand, warum die Männer, die sie begingen, gerade in ihrer besonderen 
Wesensart dem heute Rückblickenden als echte Kinder ihrer Umgebung 
erscheinen. Irgendwie war auch Kaiser Wilhelm II. mit seinem lebhaften 
Sinn für prunkvolle Gesten, mit seiner unbedachten Forschheit und seinem 
Mangel an stiller Selbsterziehung ein echtes Kind dieser Zeit. Und irgend¬ 
wie erinnert die graue Eminenz im Auswärtigen Amt, die an ihrem Schreib¬ 
tisch die Geschäfte der Außenpolitik spitzfindig erwog, an den technischen 
Denker des Jahrhunderts, der aus bekannten Größen eine neue Formel 
errechnet. Auch die phantasie- und blutlose Verstandesschärfe eines Hol¬ 
stein konnte nur von den Angehörigen einer Generation geduldet wer¬ 
den, die selbst den inneren Schwung und den Glauben an Impondera¬ 
bilien verloren hatte. 
Die Kritik an Einzelnen muß sich daher, will sie gerecht sein, zur Kritik 
an der gesamten Epoche erweitern. Nur so hat der Blick in die Vergangen¬ 
heit einen tieferen Sinn für die Gegenwart. 
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