Volltext: Geschichte des Steirischen K. u. K. Infanterie-Regimentes Nr. 27 Band II (II. / 1937)

Die Kriegslage zu Beginn des Jahres 1918 
Zur Zeit, als aus dem obevitalienischen Glacis noch einmal auch der Rhein 
verteidigt wurde, hatten in Rußland die Bolschewiki unter Lenin und Trotzki den 
ententefreundlichen Diktator Kerenski im November 1917 gestürzt. Der Bolsche¬ 
wismus, der das Staatsvnder ergriffen hatte, barg in seinem Schoße die Welt¬ 
revolution. In einem Funkspruch „An alle" erging an alle kriegführenden Völker 
der Ruf nach einem Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen, auf der 
Grundlage der Unabhängigkeit und des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. 
Zwei Tage zuvor, am 26. November, fragte der zum Oberbefehlshaber und 
Volkskommissär ausgerückte Fähnrich Krylenko durch Funkspruch an, ob die 
deutsche Heeresleitung bereit fei, Waffenstillstand zu schließen. Die Antwort lautete 
bejahend. Am 2. Dezember überschritt die russische Waffenstillstandsabordnung die 
deutschen Linien auf dem Wege nach Brest-Litowsk. 
Es war ein Augenblick von weltgeschichtlicher Größe. Wie wäre der Kriegs¬ 
verlauf gewesen, wenn dieses Ereignis früher eingetreten wäre? 
Am 15. Dezember 1917 kam mit den russischen Kommunisten, die das diplo¬ 
matische Spiel fortan beherrschten, zunächst ein auf vier Wochen befristeter Waffen¬ 
stillstand zustande, von dem auch Rumänien zwangsläufig betroffen war. 
Inzwischen war ein zweites Ereignis von größter politischer Tragweite einge¬ 
treten: der Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Woodrow Wilson, 
verkündete am 8. Jänner 1918 im Weißen Hause zu Washington seine vierzehn 
Thesen, unmittelbar an die Brest-Litowsker-VerhaNdlungen anknüpfend. Von den 
„14 Punkten Wilsons", die fortan die Welt in Atem halten sollten, drückte Wilson 
im zehnten Punkte den Wunsch aus, daß der Platz der Völker Österreich-Ungarns 
unter den arideren Staaten sichergestellt werde, und verlangte zu diesem Zwecke 
für sie Gelegenheit zur autonomen Entwicklung. Wilson sah des weiteren eine 
Berichtigung der italienischen Grenzen nach klar erkennbarem nationalem Besitz¬ 
stände vor, forderte die Räumung Serbiens, Rumäniens und Montenegros und 
die Errichtung eines unabhängigen Polenstaates: 
Wilsons Thesen, deren letzte von der Idee des Völkerbundes beseelt war, und 
der Aufruf der Bolschewiki „An alle" verfehlten begreiflicherweise nicht die Wirkung 
aus Europas Völker, besonders nicht auf Österreich-Ungarns Völker. Der Samen 
war gesät, aus dem eine unheilvolle Saat aufgehen sollte. Die historische Stunde 
hatte geschlagen, in der sich die Abkehr der Nationalitäten im Reiche der Habs¬ 
burger und die Forderung ihres Selbstbestimmungsrechtes vorbereitete, so daß man 
nicht fehlgeht, in den beiden Manifesten aus Rußland und Amerika die Grund¬ 
lagen für den beginnenden Zerfall der Donaugroßmacht zu erblicken. 
Nun war der Böden bereitet, in den 'bic feindlichen Staatslenker ihr gefähr¬ 
lichstes Kriegsmittel, jenes einer zügellosen Propaganda, versenkten. Richtete sich 
gegenüber dem Deutschen Reiche diese tückische Waffe vor allem gegen die soziale 
Schichtung, so bot im Habsburgerreiche vornehmlich das nationale Moment einen 
willkommenen Angriffspunkt. Immer mehr schwand nunmehr die Autorität der 
Regierungen in beiden Staaten der Monarchie dahin. Die zerstörenden Kräfte 
gewannen fortan die Oberhand und sprengten den alten Bau. 
Dunkles Gewölk verdüsterte demnach den Horizont der Mittelmächte. Nahrungs¬ 
not und seelische Bedrängnis stiegen im Inneren Deutschlands und Österreich- 
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