Volltext: Geschichte des Steirischen K. u. K. Infanterie-Regimentes Nr. 27 Band I (I. / 1937)

über die Pläne der Russen konnte man aus Seite der Verbündeten zu keinem 
irgendwie zuverlässigen Bilde gelangen. Besonders blieb die Feindlage im galizischen 
Raume noch immer in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Was bereitete der Russe 
hinter dem undurchdringlichen Kavallerieschleier entlang der Wistoka vor? Wollte 
er nach Ungarn hinein? Plante er — und manche Anzeichen sprachen hiesür — 
einen Vorstoß über die mittlere Weichsel gegen Deutschland? Würde ihn ein 
eigener, auf galizischem Boden angesetzter neuerlicher Angriff überhaupt noch 
diesseits des Sanflusses in stärkerer Zahl treffen? 
Aufgefangene russische Funksprüche ließen am Monatsende mit ziemlicher 
Bestimmtheit die Annahme zu, „daß sich die nächste große Aktion der Russen gegen 
Deutschland kehren und aus einen Stoß von Warschau aus hinauslaufen würde, bei 
Festhaltung des San und der Weichselstrecke abwärts der Sanmündung". 
Noch mehr als die Verbündeten tasteten die Russen mit ihren weiteren Ent¬ 
schlüssen im dunkeln. Unter dem Eindrücke der bis zum Abende des 27. September 
eingelangten Nachrichten raffte sich am 23. die Stawka — die russische Heeres¬ 
leitung — endlich zu dem großen Entschlüsse auf, „mit dem Höchstmaß an Kräften 
eine große Offensive vorzubereiten, die von der mittleren Weichsel an die obere 
Oder und damit ins Herz Deutschlands führen sollte". Der russische Oberbefehls¬ 
haber, Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, gedachte aus der Südwestfront mindestens 
zehn Korps über die Weichsel vorzuführen. 
Der Befehlsbereich des Generals Iwanow wurde auch auf den Raum von 
Warschau ausgedehnt. Iwanow setzte am 1. Oktober die Grundzüge der bevor¬ 
stehenden großen Operation fest. Die unter seiner Führung stehenden Streitkräfte 
der Südwestfront hatten drei große Gruppen zu bilden: eine aus der 2. (Warschau), 
5., 4. und 9. Armee sowie der Reiterei Nowikows bestehende Hauptgruppe, eine 
von Brussilow befehligte galizische Gruppe, gebildet von der 3., 8. Armee und der 
Belagerungsarmee von Przemysl (spätere 11. Armee), und schließlich im Norden 
gegen Ostpreußen die Narewgruppe. 
Die galizische Gruppe hatte unter Einschließung von Przemysl, das hiemit seine 
große strategische Hilssrolle zu spielen begann, die Hauptgruppe südlich der Weichsel 
in der Richtung Krakau zu begleiten und sich hiebei gegen die Karpathen zu sichern. 
Mit diesen Weisungen wurde die Bildung des gewaltigen Sturmblockes einge¬ 
leitet, der als die bisher größte Machtäußerung orientalisch-asiatischen Ausdehnungs¬ 
triebes, zugleich aber als Werkzeug der westlichen Demokratien im Oktober und 
November 1914 vergeblich die Tore des Abendlandes berennen sollte und in der 
Geschichte für alle Zeiten unter dem Namen der „russischen Dampfwalze" fort¬ 
leben wird1. 
Der Umfang der hinter dem mächtig angeschwollenen Weichselstrom sich voll¬ 
ziehenden Nordverschiebungen des Gegners trat von Tag zu Tag mehr in 
Erscheinung. Immer klarer trat die russische Absicht zutage, den Nordslügei der 
deutschen 9. Armee aus dem Warschauer Raume zu umfassen. Beiderseits wurde 
das Streben, dem anderen die Flanke abzugewinnen, immer drängender. Letzten 
Endes mußte aber jener von beiden Partnern die Oberhand gewinnen, dessen 
zahlenmäßiges Mehr an Kräften in diesem gigantischen Würfelspiel den Aus¬ 
schlag gab. 
1 Österreich-Ungarns Letzter Krieg, I., 386. 
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