Volltext: Jildirim [4] (Ban 4/1925)

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Wer mir im letzten Aufglühen des sinkenden Gestirns wie in Purpur 
die Kapitale, Löwenhäupter und Mäander-Omamente des alten Baal- 
tempels. Ein Raunen und Flüstern wie die Stimmen der Geister vor 
tausend und noch einmal tausend Jahren umgibt mich: still verlasse ich 
die Stätte. 
Furchtbar schwingt der jammervolle Krieg seine Geißel über der 
Welt. Im Frieden lautete das allgemeine Kirchengebet: „Herr, bewahre 
uns vor Krieg, Teuerung, Hungersnot und ansteckenden Krank- 
heitenl" und die Gemeinde betete es mit, gewohnheitsgemäß, ohne sich 
ernsteren Gedanken dabei hinzugeben. Als aber der Krieg dann wirklich 
kam und der eiserne Ring der Hungerblockade sich um unser Vaterland 
legte, da fing es in mancher Seele schon frühzeitig an zu dämmern, was 
das Kirchengebet meinte . . . Gewiß I Der Tod hielt eine furchtbare 
Ernte draußen an der Front und in den Lazaretten der Heimat und 
brachte Jammer und Trauer in die Heime Ungezählter. Dann stellte 
sich zunehmend eine Knappheit aller Lebensbedürfnisse ein; und als das 
vierte Kriegsjahr über das Land zog, da hungerte unser Volk. Aber 
das trat bei uns in nicht entfernt so fürchterlichen Bildern, wie sie 
mir hier in Baalbek und weiterhin begegneten, in Erscheinung. Als 
ich die Ruinen des Baaltempels verlassen hatte, sah ich zwei kleine 
Menschen Kinder von drei bis vier Jahren, wie sie abgemagert buch- 
stäblich zum Skelett, die dunkeln schwarzen Augen im totenschädelartigen 
Gesicht, halb erloschen, mit dürren Knochenfingerchen den Kehricht der 
Straße und den Dünger des Zugviehes nach Krumen und Körnern durch- 
suchten und das Gefundene gierig dem faltigen Munde zuführten. Das 
sind die Paria des türkischen Orients, die unschuldigen Opfer des Krieges 
und des Hungers. Der Anblick wirkt um so furchtbarer, als diese ver- 
lorenen und elternlosen Geschöpfe, herrenlosen Hunden gleich, stumm 
und ohne Klage durch den Staub der Straße dahinkriechen, um nachts 
sich in irgendeinem Winkel der Gasse zum erlösenden ewigen Schlaf zu 
betten. Machtlos und deshalb zerschmettert im tiefsten Innern steht der 
Mensch solchem menschlichen Elend gegenüber. Was nützt es, daß du 
diesem Kind ein Brot in die Hand drückst, während hundert andere zu 
derselben Zeit in den Gassen daneben verhungern! 
Der lange Krieg verhärtet das Herz der Menschen, aber gegen 
diesen Jammer gibt es keine Abwehr des Empfindens. Was ich in 
Baalbek zum ersten Male schaudernd erblickte, war Nur das Vorspiel von 
dem, dessen Augenzeuge ich in dieser Beziehung weiterhin in Damaskus» 
am Libanon und in Beirut war. Und als ich, als Armeearzt, im Januar
	        
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