Volltext: Jildirim [4] (Ban 4/1925)

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Unmöglich ist es, bei einem kurz bemessenen Besuch des Ruinen- 
selbes all das Gewaltige und künstlerisch Schöne in seinen Einzelheiten 
zu erforschen und in sich aufzunehmen. Der Weltkrieg hat auch hier 
vorläufig einen starken Strich unter die Erschließung der noch unter 
den Trümmern liegenden Schätze gemacht. Aber kaum ein Ort auf der 
Welt wird sich finden, an dem mit gleicher Wucht dem flüchtigen Be- 
schauer sich die Gewalt des menschlichen Geistes der Antike, seines tech- 
Nischen Könnens und künstlerischen Schaffens aufdrängt. Man fragt sich 
immer wieder: Was war bewundernswerter, die architektonische 
Kunst und die Kleinbildhauerei, die selbst arabischer Vilderstürmer- 
Vandalismus nicht ganz vernichten konnte, oder das technische Können 
jener Menschen, die solche Säulen aufrichteten, sie in schwindelnder Höhe 
noch mit harmonisch abgemessenen Architraven krönten und zyklopische 
Steinblöcke bewegten, vor denen alle modernen Mittel versagen würden! 
Und dennoch! Was ist übriggeblieben von jenen gewaltigen 
Prachtbauten, die das Staunen und die Anbetung der damaligen Be- 
Sucher in ihren Bann zwangen? Ich sitze schweigend allein, ein winziger 
Mensch, gelehnt an eine der hochragenden sechs Säulen des Jupiter- 
Tempels, umgeben von dem Chaos gewaltiger Trümmer und geborstener 
Kapitale; wieder klingt es im Ohr: „Nichts Gewaltigeres gibt es als 
den Menschen". Menschenhände schufen so Erhabenes, Menschenhände 
zerstörten das Wundergebilde. Der christlich-religiöse Eifer eines 
T h e o d o f i u s rottete die Zeugen des alten Götterdienstes aus, fegte 
den orientalifch-finnlichen Kult der phönizischen Astarte hinweg, arabisch- 
mongolische Stämme, die tartarischen Horden eines Timur brausten 
über die christliche Basilika hinweg, errichtet aus den Bausteinen des alten 
Baaltempels, und wandelten das Ganze in eine Zwingburg des Landes. 
Was aber Menschenhände nicht vermochten an Zerstörung, das bewirkten 
elementare Ereignisse: gewaltige Erschütterungen der heute noch nicht 
zur Ruhe gekommenen Erdrinde warfen wie im Spiel alle Gebilde von 
Menschenhand durcheinander und schufen das Trümmerfeld, wie es sich 
heute dem Auge bietet.*) 
Eben versinkt drüben die Sonne jenseits des Libanon im Mittel- 
rneer. Von Minute zu Minute verändert sich wie im Zauber Farbe und 
Ton der ragenden Säulen über mir. Während ich selbst bereits im 
grauen Dämmer der schnell hereinbrechenden Nacht dasitze, leuchten 
*) „Baalbek. Ergebnisse der Ausgrabungen und Untersuchungen in den 
Iahren 1898 bis 1.905". Herausgegeben von Theodor Wiegand. Berlin unv 
-Leipzig 192l. Vereinig'lng wissenschaftlicher Verleger.
	        
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