Volltext: Jildirim [4] (Ban 4/1925)

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Tages." Der Fluch ist in Erfüllung gegangen, nur spärliche Trümmer 
zeugen heute von ihrem früheren Dasein. 
Ein junger Franziskaner begleitet mich auf meiner Wanderung. 
„Hier auf diesen Felsstufen lagerte das Volk — fo erzählt er — dort lag 
wohl der Nachen, aus dem Jesus zu der lauschenden Menge sprach. 
Dort aber — und mein Begleiter weist auf einen glatten Felsvorsprung 
am Ufer — erschien der Herr den Jüngern nach seinem Tode und speiste 
mit ihnen." Man vergißt bei diesen einfachen Worten, gebannt durch 
den Zauber der Örtlichkeit, ganz den legendären Charakter der Erzählung, 
man wird unweigerlich ergriffen von der geschichtlichen Tatsache, daß hier, 
wo ich eben schreite, der Fuß des Meisters gegangen ist, daß er hier als 
Mensch unter Menschen lebte. 
Nach einstündiger Wanderung durch Gärten und Weinberge stehe 
ich vor dem verschlossenen Tor einer festen Steinmauer, die ein größeres 
Stück Ackerland umschließt. „Tell Hum!" sagt mein Begleiter. Wir sind 
in Kapernaum. Bis vor wenigen Jahren nur ein „Tell", ein tausend- 
jähriger Schutthaufen, unter dem das Altertum liegen mußte. 
Ein Deutscher, der Franziskanerpater W e n d e l i n, hat mit Unter- 
stützung der deutschen Orientgesellschaft die Schätze gehoben und damit 
den Beweis erbracht, daß hier wirklich Kapernaum lag. Ein silberbärtiger 
Greis in brauner Kutte öffnete mir das Tor, lustig zwinkernd mit den 
jugendfrischen Augen, eine starke eisenbeschlagene Lederpeitsche in der 
Hand: „Es ist nur wegen der Schlangen, die es hier gibt!" beruhigt er 
mich und reißt den starken Wolfshund zurück, der, ein sicherer Schutz 
gegen räubernde Beduinen, mir entgegenspringt. 
Ich befinde mich auf einem von gewaltigen Trümmern der Antike 
bedeckten Platz, auf dem einst die Schule stand, die der liberale römische 
Hauptmann den Juden erbaute, wo vielleicht das Haus des I a i r u s 
stand, dessen Tochter Jesus vom Tode erweckte. — Ringsum ungezählte 
Säulenkapitäle edelster Ornamentik, Treppen, steinerne Bänke und Por- 
tale in buntem Durcheinander, noch ungeordnet von fachkundiger Hand, 
so wie sie aus dem Schutt des Bodens erstanden. „Dies aber," — Pater 
Wendelin führt mich zu einem Nonagon aus leuchtenden Marmor- 
platten — „ist mein Schatz!" Mit der Sandale schiebt er die den Marmor- 
boden bedeckende oberflächliche Sandschicht fort. Vor meinen Augen ent- 
hüllt sich ein kostbares Mosaik, das, einst von phönizifcher Künstlerhand 
gebildet, den Boden der sich später darüber erhebenden byzantinischen 
Basilika schmückte. Sorgsam deckt W e n d e l I n seinen Schatz wieder zu, 
um ihn zu schützen vor räuberischer Hand und vor Zerstörung durch die 
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