Volltext: Jildirim [4] (Ban 4/1925)

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Die Straßen und Gassen Razareths sind bis auf die Hauptstraße 
eng, winkelig, dunkel und erlauben wegen ihrer Steilheit keinen Wagen- 
verkehr. Ein von mir unternommener Versuch, im Rollwagen, gezogen 
von drei mageren Kleppern, die Höhe zu erreichen, endigte schon nach 
kurzem durch Umkippen in der Straßengosse. 
Der türkische Ortskommandant, ein alter verabschiedeter Oberstleut- 
nant von der Artillerie, zeigte sich, von Damaskus aus mit Weisungen 
versehen, mir entgegenkommend und gastfreundlich. Es gelang mir. in 
dem österreichischen Hospiz und der danebenliegenden französischen Schule 
geeignete Räume für ein deutsches Lazarett sicherzustellen. Die amtieren- 
5en Brüder des von Zypressen, Orangenbäumen und Myrthen um- 
schatteten Hospizes schienen glücklich, auf diese Weise der türkischen Be- 
fchlagnahme zu entgehen und boten mir in jeder Beziehung hilfreiche 
Hand. 
Das türkische Stabsquartier befand sich in der Casa nuova, einem 
geräumigen Pilgerheim des gegenüberliegenden Franziskanerklosters. 
Dieses über der Grotte der Verkündigung erbaut, jener heiligen Statte, 
an der der Engel Gabriel Maria die Botschaft der Mutterwerdung 
Christi überbrachte, ist das Sehnsuchtsziel für die Pilgerfchaft der ganzen 
Welt. Rur kurze Zeit konnte ich heute dem Besuche der heiligen Stätte 
widmen. Die Ecclesia Annuntiationis steht auf den Trümmern und 
Mauern mehrerer vorausgegangener Kultstätten, deren Schichten man 
heute noch erkennt. Ägyptische Porphyrsäulen werden sichtbar, römische 
Kapitäle, zu unterst aber eine der in Palästina nicht seltenen Stein- 
höhlen, die, von Ureinwohnern in vorgeschichtlicher Zeit angelegt, auch 
der Jungfrau Maria als Wohnraum gedient haben mag. Bruder S e - 
bastian, ein jovialer, stark amerikanisierter, biederer Westfale, führte 
mich: „Hier stand der Engel Gabriel, dort kniete Maria, als sie die Bot- 
fchaft entgegenahm. Aber," so fügte er mit naiver Offenherzigkeit hinzu, 
«das brauchen Sie nicht alles zu glauben, es ist ja nur Legende!" 
Bruder S e b a st i a n steht dem allen stark kritisch gegenüber, noch mehr 
zeigt er sich als Skeptiker in der sogenannten Werkstatt des Vater 
Joseph. Erst wenn er auf die Person Jesu selbst zu sprechen kommt, 
legt er fein breites gemütliches Gesicht in frömmere Falten. 
Das Ganze hier in Razareth ist eben im Laufe von nun bald 2000 
Jahren für die Pilger und von den Pilgem ihrer frommen Gläubigkeit 
zuliebe legendär zurechtgefchnitten. Man mag ruhig von alle dem 
absehen, die ganze Örtlichkeit wirkt doch gewaltig auf den empfänglichen 
Menschen. „Hie verbum caro factum est" — „Hier ist das Wort Fleisch
	        
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